Vom heutigen Okkultismus der Postaufklärung

Wenn man die gesellschaftlichen und geistigen Strömungen am Anfang des 21. Jahrhunderts verstehen will, ist ein Blick auf ihre Wurzeln bereits in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts notwendig. Die Bemühungen der Aufklärung um Rationalität und Vernunft ließ die Angst der Menschen vor Höllenstrafen und der Hölle allmählich dahinschwinden. Doch der Teufel als Prinzip des Bösen blieb bestehen, begann in okkultistischen Varianten ein bizarres Eigenleben. Teufel und Trieb gingen eine enge Verbindung ein.

Eine der Schlüsselfiguren zum neuen Verständnis von individuellen Triebkräften war der Maler, Schriftsteller und Mystiker William Blake (1757-1827). Er vertrat die Auffassung, die christliche Weltanschauung verhindere durch ihren beengten moralischen Horizont den Zustand der Unschuld des Menschen, in der jeder hineingeboren wird. Dies sei der Lehre Satans geschuldet, welche die Freiheit des Einzelnen, seine Gefühle zu leben, beschränkt.

Einer der schillerndsten Vertreter dieser neuheidnischen Lehre war der Okkultist, Schriftsteller und Ordensgründer Aleister Crowley (1875-1947). Er war vollkommener Nonkonformist und sein Schlüsselsatz lautete: „Tue was du willst soll das ganze Gesetz sein“. Er bezeichnet es als das Gesetz des Thelema, der griechische Ausdruck für Willen. Nun wird der individuelle Wille des Einzelnen zum Garanten der radikalen Entfaltung der Persönlichkeit um jeden Preis.

Es entstand daraus der moderne Satanismus, die Ritualisierung des Bösen als die Kehrseite des Wertewandels der 1960er und 1970er Jahre. Dieser war der Versuch, mit provozierend negativen Wertalternativen zu spielen. Die Herausforderung der freien Gesellschaft war, einen Bestand an positiven und ethisch vertretbaren Werten zu sichern, selbst wenn sie nicht uneingeschränkt christlichen oder anderen religiös verankerten kanonischen Grundlagen entspringen.

Die neumystische New-Age-Bewegung gilt als eine solche Antwort darauf. Im Umfeld der Hippiezeit am Ende der 1960er Jahre festigte sich die Überzeugung, es dämmere das neue Zeitalter des Wassermanns herauf. Das Musical „Hair“ lieferte dazu den Soundtrack. In diesem Zeitalter werde eine neue Qualität menschlicher Beziehungen entstehen, eine von Harmonie und Verständnis geprägte Zukunft. Esoterische Lehrmeinungen schöpften aus dieser Anschauung, alternative Lebensgemeinschaften, Friedensbewegungen, Umweltbewegungen und spirituelle Heilmethoden für Körper, Geist und Seele. Nicht zuletzt gründet sich darin die Philosophie und Ideologie der grünen, ökologischen Bewegungen und Parteien von heute.

Diese neuromantische Ideologie beginnt wieder hinter die rationalistischen Errungenschaften der Aufklärung zurückzutreten, die Zeit der Postaufklärung beginnt. Es war der Versuch die Auswirkungen des 2. Weltkriegs zu überwinden, die Hochrüstungen der Blöcke im Kalten Krieg, ein Rückzug in eine romantische Gefühlswelt, wie schon vor und nach den Napoleonischen Kriegen in der Zeit der Romantik und des Biedermeier.

Die verschiedenen Praktiken des New Age hinterließen deutliche Spuren in den folgenden Massenkulturen. Sie strebt nach einem Wertewandel in Familie und Gesellschaft, mit dem Ziel offener Strukturen und individualistischer, privatreligiöser Sinnstiftungen. Dies ist die Ursache des oftmals  religiösen Charakters von heutigen Bewegungen für den Klimaschutz, Tierschutz, Veganismus oder der Vergötzung des Leibes durch seine Optimierung in Fitness, Aussehen und Gesundheit. Diese spirituelle Lebensphilosophien, auch wenn sie von ihren Trägern nicht als solche wahrgenommen werden, sind Eigentümlichkeiten der New-Age-Bewegung. Dort wendet man sich vom Fortschrittsglauben ab, ist gegen funktionalistische Vorstellungen von Kontrolle und Planung, Automatisierung und Technisierung aller Lebensbezüge.

Die New-Age-Bewegung ging sehr früh in Verknüpfung mit den Avantgardisten der Digitalität. An der amerikanischen Westküste formierten sich nicht nur Studentenproteste, kleine Kirchen und spirituelle Gemeinschaften, sondern auch die Computer- und Softwareentwickler. Oberflächlich sind wohl keine Gemeinsamkeiten zwischen den technikbegeisterten Tüftlern und den verträumten Poeten des Pop auszumachen. Doch in diesem von Stewart Brand zusammengeführten Milieu erwuchs der Traum von der Auflösung technokratischer Systeme mit Überwachung in ein Netzwerk freier Individuen, authentischer, egalitärer Lebensstile und offene Kommunikation. Wie sehr dieser Traum auch ins Negative verdreht wurde, zeigen heute die mit persönlichen Daten handelnden digitalen Konzerne, wie Google, Microsoft oder Facebook.

Bill Gates, Gründer von Microsoft, sah das Internet als beste Quelle zur Bildung der Menschheit. Der Gründer von Wikipedia Jimmy Wales postuliert, dass es nicht mehr um Erkenntnis ginge, sondern um Übereinkunft, über das, was als Wissen gelten soll. Das Wissen der Vielen sei ebenso tragfähiges Bindeglied einer globalen Gesellschaft wie Naturgesetze, Normen, Regeln und Erkenntniswissen. Hier tritt genau jenes idealistische Ziel der New-Age-Bewegung von Harmonie und Zusammenarbeit zum Vorschein, aber man versteht auch die Probleme, die entstehen, wenn dieses Ziel vom Willen und Gefühl des Einzelnen, bis hin zur Abwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und naturgesetzlichen Vorgaben, geprägt wird. Die „Übereinkunft“ findet dann in streng abgegrenzten virtuellen Räumen statt, die ihre eigene Wahrheit und den Blick auf die Realität kreieren und durchsetzen wollen.

Es ist Bruchlinie der Postaufklärung zwischen Ideal und Realität, die eben doch nicht auf einen angenommen Menschen der Unschuld trifft. Das Bewusstsein vom Frieden und Mensch-Umwelt-Beziehung schwankt zwischen Naturmystik, Homöopathie, Verschwörungsglauben, Ratio und Verstand. Politik dieser Gesinnung wird zur Belehrung, Bevormundung, gießt sich in Verbote zum angeblichen Wohle aller, bis hin zum Moralismus, der den Maßstab von Moral ebenso nur mehr in vorübergehenden menschlichen Übereinkünften wahrnimmt.

Bei den Philosophen Horkheimer und Adorno findet sich in der „Dialektik der Aufklärung“ folgender Satz: „Mit der Versachlichung des Geistes … wurden die Beziehungen der Menschen selber verhext … der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seelen“. Doch dieser Versachlichung erwehrt sich die Seele, der spirituelle Mensch ist ein Faktum.

So begegnet der Mensch in der Postaufklärung keinen Schicksalsmächten mehr, aber wahrscheinlich ist die Rede vom Lebenssinn, von einer Spiritualität und von geistiger Heilung mit Erlösungsanspruch immer noch geführt. Denn diese Begriffe haben einen Vorteil gegenüber älteren philosophischen und theologischen Vorstellungen: sie stammen aus einem säkularen, individualistischen und globalisierten Verständniszusammenhang. In ihrer umfassenden Art sind sie unscharf und wandelbar, wie andere Phänomene des modernen Kulturbetriebs.

Der Einzelne kann sich daraus nach seinen Bedürfnissen seine persönliche Mischung gestalten. Vorhanden im Baukasten sind Versatzstücke aus unterschiedlichen Weltanschauungen. Das Ziel ist Selbsterkenntnis, Selbstoptimierung, Erlösung und innere Harmonie. Deshalb treiben neben neuen Weltanschauungen mit religiösem Charakter auch die Esoterik ihre Zweige aus. Dies ist einerseits die Folge der Wissensmehrung in den Naturwissenschaften, die manchen den Eindruck vermittelt, alles sei möglich. Andererseits sind esoterische Angebote, wie etwa Buddhismus-light, Yoga oder teilweise auch die Verschwörungsmystik, Ausdruck für das Bedürfnis, sich in Weltbildern mit einer transzendenten Dimension aufgehoben zu fühlen. In all den Gruppen, Echoräumen und vorübergehenden Interessengemeinschaften, was Freizeitverhalten, Identität oder politische Ausrichtung betrifft, wird das Bedürfnis gestillt, dass der Mensch, oder wenigstens ein Teil davon, zu einer Einheit streben muss. Es ist die Sehnsucht nach Liebe und geliebt sein.

Welche Einheit soll aber hergestellt werden, wenn sie Bedingungen erfüllen muss? Die Antwort kann nur individualistisch sein, denn die Harmonie, das Urganze, kann esoterischen Lehren zufolge nur im Einzelnen existieren. Das Postulat des freien Willens und der freien Wahl als einzige Bedingung zur Erlangung eines persönlichen Lebenssinns ist also selbst für jene, die sich gerade von traditionellen oder religiösen Vorgaben und Werten befreien wollen, eine zutiefst religiöse und esoterisch-traditionelle Angelegenheit.

Esoterische Lehren prägen die Massenkultur der Gegenwart, sie sind konsequent individualistisch. So ist es dann auch der Okkultismus, die Lehre vom Verborgenen und Übersinnlichen, der etwa von den Verschwörungen der Eliten, homöopathischen Wirkungen, den selbstoptimierenden Vorzügen von Gesundheitscomputern am Handgelenk oder der Berufung zum Weltretter als Klima,- Tierwohl- oder Fahrradaktivist spricht. Jeder wird persönlich zu seines eigenen Heiles und Glückes Schmied.

Das soziale Element des Aufgehobenseins durch geteilte Überzeugungen, das in monotheistischen Religionen eine große Rolle spielt, und die Verantwortung des Einzelnen für andere treten durch diese individualistische Prägung in den Hintergrund. Überall dort, wo von Vielfalt, Antidiskriminierung, Selbstbestimmung von Geschlecht und Identität gesprochen wird, sind die Ziele keineswegs die Einheit und Harmonie aller Menschen, sondern die Schaffung eines Rahmens, in dem jeder Mensch seinen Willen ungehindert ausleben kann.

Dem esoterischen Kern der durchaus gutgemeinten und richtigen Bestrebungen, was etwa Klimaschutz und soziale sowie geschlechtliche Gleichberechtigung angeht, fehlt jener Rahmen, der unabhängig von individuellen Motiven wirkt: eine Transzendenz, die über dem Menschen hinweg eine Einheit und Harmonie der allumfassenden Liebe schafft. Sie rechnet weder Leben gegen Leben auf, Wille gegen Wille, sondern vereint die Menschen in dem einen Sein, das er sich nicht selbst geben kann.

Dem Menschen wurde diese Transzendenz als Götter oder dem einen Gott vorgestellt. Im christlichen Gott, der Mensch wurde, verband sich endgültig und auf ewig das Verborgene, das Okkulte der göttlichen Transzendenz sowohl mit dem Verborgenen im Menschen als auch mit der Realität und Sachlichkeit des Lebens. Es ist die Tragik der Postaufklärung, dass diese Verbindung, Einheit und Harmonie nonkonformistisch verloren wird und nun mühsam in der Zerrissenheit des Menschen zwischen Okkultismus und Sachlichkeit von ihm selbst in seiner verlorenen Unschuld hergestellt werden will.

S.D.G.

Bild: aus Songs of Innocence & Experience by William Blake

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